Senderos: Was sucht er beim Letzten der Challenge League? (2024)

Philippe Senderos spielte in der Beletage des Weltfussballs, für Arsenal und die AC Milan. Nun müht er sich in Chiasso ab, ein versöhnliches letztes Kapitel seiner Karriere zu schreiben. Doch noch hat er das Glück im Tessin nicht gefunden.

Nicola Berger, Chiasso

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Das Licht ist schummrig, der Trainingsplatz in einem so liederlichen Zustand, dass sich vermutlich sogar Pferde sträuben würden, darauf herumzurennen. Es ist Mittwochabend, der FC Chiasso beendet gerade sein Training. Unter denen, die im Morast vom Rasen trotten, ist ein bekanntes Gesicht: Philippe Senderos. Der Genfer war einst der Abwehrchef der Schweizer Nationalmannschaft, unvergessen, wie er an der WM 2006 gegen Südkorea per Kopfball blutüberströmt den Siegtreffer markierte. Senderos war ein Held, heute ist er ein Mysterium. Und passt darum eigentlich ganz gut zu diesem rätselhaften Klub, der in praktisch jeder Transferperiode scheinbar wahllos ein Gros seines Kaders austauscht und sich am Ende irgendwie vor dem Abstieg rettet.

Chiasso ist nicht nur der letzte Schweizer Ort an der italienischen Grenze, sondern für Fussballer auch so etwas wie die finale Karriereausfahrt. In den letzten Jahren spielten hier die ehemaligen Nationalspieler Beg Ferati und Alberto Regazzoni, ehe sie im Amateurfussball verschwanden. Dabei wäre Chiasso gerne wieder das Sprungbrett für grosse Karrieren, so wie 2003, als der Brasilianer Raffael hier landete, der dann via FC Zürich den Sprung in die Bundesliga schaffte. Doch die Perlen sind rar geworden, denn der Klub ist ein Spiegelbild des strukturschwachen Orts: Es fehlt an Geld, Infrastruktur und Perspektive.

Der Körper streikt

Man fragt sich: Was sucht Senderos hier, mit 34 Jahren, nach einer erfüllten Karriere, die ihm Millionen einbrachte? Und weit weg von der Familie, die noch immer in London lebt. Senderos sagt auf dem löchrigen Teer vor dem Kabineneingang freundlich, aber bestimmt, er wolle nicht reden, es sei alles gesagt. Es tue ihm leid, «désolé», dann verschwindet er in der Nacht.

Die Abwehrhaltung ist keine Überraschung, es gibt an Senderos nichts Selbstdarstellerisches, das Spiel mit den Medien hat ihn nie sonderlich interessiert, er hielt lieber Abstand. Und womöglich ist er auch bloss ermüdet vom immergleichen Narrativ, von den Fragen nach dem Scheitern, darüber, wie er all die Tiefschläge wegsteckt, was er im Tessin eigentlich will. Und weshalb er nicht einfach aufgibt, statt sich das hier anzutun: sich weiter zu quälen, beim Tabellenletzten der Challenge League auf der Bank zu sitzen, im maroden Riva-IV-Stadion, das pro Heimspiel durchschnittlich 511 Zuschauer empfängt. Kein anderer Klub der Liga erhält weniger Zuspruch.

Der «Aargauer Zeitung» hat Senderos vor einigen Wochen anvertraut, ihn habe die Herausforderung gereizt, darum habe er sich Chiasso angeschlossen. Und der «Tribune de Genève» versicherte er, es hätten sich ihm ganz andere Möglichkeiten geboten, er habe beispielsweise finanziell attraktive Offerten aus der Golfregion erhalten, aber ihn habe beim FCC «das Projekt überzeugt». Offenkundig wäre das auch anderswo der Fall gewesen: Schon im letzten Winter hatte er sich dem Servette FC angeboten, seinem Stammklub. Im Sommer absolvierte er ein Probetraining bei GC, einem seiner vielen Ex-Vereine, erhielt aber eine Absage; das Problem war, dass die Klubs vom «Projekt Senderos» weniger überzeugt waren als umgekehrt. Nicht immer hat Senderos bei seinen letzten Stationen eine gute Figur gemacht, er wirkte oft zu langsam für den Profifussball. Als ob sein geschundener Körper gegen die Strapazen rebellieren würde. Verletzungen haben ihm über die Jahre immer wieder zugesetzt, sie verhinderten eine noch illustrere Karriere. Der «Aargauer Zeitung» sagte Senderos, es habe Nächte gegeben, in denen er vor Schmerzen kaum in den Schlaf gefunden habe.

Womöglich ist es das, was Senderos antreibt: dass er sich nicht auf diese Weise aus dem Fussball verabschieden will; die Suche nach einem versöhnlichen Schlusspunkt. Es ist nichts Neues, dass Senderos sich selber stark unter Druck setzt. Sein früherer Teamkollege, der ehemalige französische Nationalspieler William Gallas, sagte in einem Interview, Senderos habe in seiner Zeit bei Arsenal London vor Spielen regelmässig Panikattacken gehabt: «Er begann zu schwitzen, und man sah, dass er sich nicht wohl fühlte, weil er sich so grosse Sorgen machte.»

Vielleicht hoffte Senderos, in der beschaulichen Challenge League fernab vom medialen Scheinwerferlicht noch einmal Selbstvertrauen zu tanken. Doch für Chiasso hat er bisher eine einzige Partie bestritten, am 9.November beim 4:1-Sieg in Wil. Sonst stand er meist nicht einmal im Aufgebot, auch sein Einsatz beim Wiedersehen mit den Grasshoppers am Samstag ist ungewiss.

Die Attacke MacDonalds

Der rasante Abstieg von Senderos vom geachteten Profi bei Arsenal hinab in die Tristezza des FC Chiasso macht ihn zu einer Zielscheibe für billige Polemik. Schon in den Jahren zuvor hat er reichlich verbale Prügel einstecken müssen. Als er 2017 für die Glasgow Rangers spielte, sagte die schottische Sängerin Amy MacDonald, ein Edelfan des Klubs, Senderos sei «ein fürchterlicher Fussballer, einer der schlechtesten Spieler überhaupt».

Es sind Anfeindungen, wie Senderos sie nicht verdient hat. Genauso wenig wie das wohl finale Jahr seiner Laufbahn in der Anonymität des Grenzgängerorts Chiasso.

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